Fritz Reuter. Ein Nachruf
Nachruf von Julius Stinde
Aus der Hamburger Zeitung "Reform" Nr. 168, 17. Juli 1874, S. 2.
Aufgefunden und mitgeteilt von Ulrich Goerdten.
"Ick gung den Görlitzer Kirchstig entlang und lat mi dat dorch den Kopp gahn, wat ik hürt hadd, und dat was All so, as’t ümmer op dese Ird begäng is: Freud und Leid, Geburt und Dod."
Diese Worte schrieb Reuter gegen den Schluß seiner "Stromtid", als er sich selbst in die Erzählung einführt und den Leser Abschied nehmen läßt von den Personen, die ihm lieb geworden sind. Und nun müssen wir hinzufügen, daß der Dichter auch heimgegangen ist. Es wird uns schwer, ihm ein Lebewohl nachzurufen, recht von Herzen schwer, so schwer wie immer, wenn wir von Jemand scheiden müssen, den wir von ganzer Seele lieb haben.
Und wer mit ihm gelacht und geweint, mit ihm sich gefreut hat über das Schöne auf Erden, und im Menschenherzen mit ihm getrauert hat über Niedertracht und Bosheit, der hat ihn lieb gewonnen und fühlt, daß ihn ein Herzensfreund verlassen.
Es war im Jahre 1853, als Reuter’s erste plattdeutschen Gedichte erschienen, denen er den prunklosen Titel "Läuschen und Rimels" gab, Scherze und Schnurren, denen er ein eigenartiges Gewand gegeben. Mit wenigen kurzen Strichen zeichnete er in denselben dierect aus dem Leben genommene Figuren, jede der versificirten Anekdoten wird zu einem Genrebild, dessen satte Farben und treffende Zeichnung ebenso unmittelbar wirken, wie der Humor der Detailschilderung und die Wahrheit der Darstellung. Im engeren Kreise fanden die "Läuschen und Rimels" lebhafte Aufnahme und Verbreitung, aber sie blieben trotz mehrfacher Auflagen dem großen, namentlich dem hochdeutschen Publicum lange Zeit unbekannt. Dreiundvierzig Jahre zählte Reuter bereits, als er mit diesen seinen Erstlingen an die Öffentlichkeit trat. Wo waren die vorhergehenden Jahre seines Lebens geblieben? Gab es für ihn keinen Frühling, der zum Dichten und Singen begeistert hätte? Wie kam es daß erst dem reifenden Manne die Gunst der Musen zu Theil ward?
Das Leben vorher war ihm gestohlen; den Frühling des Lebens hatte man ihm genommen, und es bedurfte der Zeit, ehe er frisches Grün und neue Knospen schlagen konnte, die um so herrlicher erblühen sollten, je später sie sich entfalteten.
Wer "Ut min Festungstid" gelesen hat, der weiß, wie so das Alles gekommen ist; der weiß, wie jugendlich heißes Glühen für die Freiheit und für das, was in unseren Tagen erreicht wurde und gepriesen wird, das Verderben Reuter’s und gleichgesinnter Commilitonen ward. Zum Tode verurtheilte das Berliner Kammergericht ihn und mit ihm achtundvierzig Kameraden, allein die königliche Gnade schenkte ihnen das Leben, von dem dreißig Jahre der Festung gehörten.
Dreißig Jahre Festung!
"Un wat hadden wi denn dahn?"
"Nicks, gor nicks. Blot in uns’ Versammlungen un unner vir Ogen hadden wi von Ding’redt, de jetzt up apne Strat fri utschrigt warden, von Dütschlands Friheit und Einigkeit, Äwer taum Handeln wiren wi tau swack, taum Schriwen tau dumm, dorum folgten wi de olle dütsche Mod’, wi redten blot doräwer."
Als Friedrich Wilhelm der Dritte starb, erließ sein Nachfolger Amnestie; die "Hochverräther" erhielten ihre Freiheit, nur Fritz Reuter wurde vergessen, bis der Großherzog von Mecklenburg sich ermannte und den Gefangenen entließ, ohne auf die Erlaubniß der preußischen Regierung zu warten.
Sieben lange Jahre waren aus seinem Leben gestrichen, er war um die schönste Zeit, um die Jugend betrogen.
Der dreißigjährige Mann ging auf Wunsch seines Vaters nach Heidelberg, um Jura zu studiren. Dort in der paradiesischen Gegend boten sich ihm die langentbehrten Genüsse des Lebens, und er ergriff den schäumenden Becher der Freude mit brennender Hast.
Wer wollte ihm das verdenken? Beugt sich doch der Verschmachtende nieder zur kühlen Quelle und wenn er auch den Tod tränke. Das Leben war ihm zur lockenden Lorelei geworden, hineingeklungen hatten seine Töne hin und wieder in die sieben entsetzlichen Jahre, in die Öde des Kerkers; nun mußte er ihnen folgen, er mochte wollen oder nicht.
Es ging nicht mehr mit dem Studiren; er wurde "Strom", wie in Mecklenburg die jungen Landleute genannt werden. Er gesundete an Leib und Seele, allein seine Mittel genügten nicht, selbst eine Wirthschaft anfassen zu können, und nun begann ein Wanderleben, das nur dem erklärlich sein kann, der die mecklenburgische Gastfreundschaft kennt, bis die Liebe ihn in den Hafen der Ruhe führte. Er verlobte sich mit Lonile Kuntze, der Tochter eines Predigers, und aus Liebe zu ihr suchte er eine bürgerliche Stellung, die er als Privatlehrer in der kleinen Stadt Treptow fand. Mittlerweile war er ein Vierziger geworden und gab Stunden - die Stunde zu zwei Groschen!
Alle Wünsche und Hoffnungen warf er von sich, alle, die sich ihm aufgedrängt hatten. - "Da treckte ick den Schaulmeister sinen Rock an, un war hei ok eng, so holl de mi doch Wind un Weder von’n Liw, un wenn ick ok Jahrelang de Stunn to twe Gröschen gewen müßt, heww ik mi in em doch gaud naug gefollen; un hadd ik för den Herrn Paster ok kein Schriwert tau besorgen, denn schrew ik des Abends "Läuschen un Rimels", un dat würd min Tüftenland, un uns Herrgott hett daräwer ja sine Sünn schinen laten, un Dau un Regen nich wehrt - und de dummsten Lüd bugen de meisten Tüsten. "
So erzählt Reuter am Schluß der "Festungstid", desjenigen seiner Werke, welches als eine Selbstbiographie betrachtet werden könnte, wenn nicht neben dem Dichter der Humor beim Schreiben gesessen hätte, der phantastische Schalk, der die blutenden Wunden mit milder Hand schloß, wenn die Erinnerung die kaum verharrschten aufriß.
Und das ist es eben, was Reuter zum wahren Volksdichter macht. Er, der Gekränkte, den die Schwärmerei für die Freiheit, am Schaffot vorbei, in den Kerker führte; er, der wohl ein Recht hatte, in die Verzweiflungs-Melodie des landläufigen Weltschmerzes einzustimmen, welche die Dichter des jungen Deutschlands mit Wohlbehagen cultivirten, den sie mit derselben Eitelkeit zur Schau trugen, wie einst die Religionsschwärmer ihre entstellten Glieder. Reuter kennt dieses krankhafte Gefühl nicht. Wohl bäumt sich sein Innerstes in der "Festungstid" in heiligem Zorn gegen den Mißbrauch von Recht und Macht auf, als er das Bild gewisser Zustände seines Vaterlandes in "Kein Hüsung" entwirft, aber die Gesundheit seines Geistes konnte die Bleichsucht des Weltschmerzes nicht aufkommen lassen. Seine Genesung aus dem Leid war ein Lächeln, wie es der Genesende dem ersten milden Sonnenschein entgegenbringt, und dies Lächeln zieht durch alle seine Werke - es ist sein göttlicher Humor.
"So egal un so sacht flütt kein Lewenslop, dat de nich mal gegen einen Damm städd un sik dor in en Küsel dreiht, oder dat em de Minschen Stein in’t klare Water smiten. Ne, passiren deiht Jeden wat, und Jeden passirt ok wat Merkwürdigs, und wenn sin Lewenslop ok ganz afdämmt ward, dat ut den lewigen Strom en stillen See ward; hei möt man dorför sorgen, det sin Water klar bliwt, dat Hewen und Ird sik in em spiegeln kann. "
Klar spiegeln sich Himmel und Erde in Reuter wieder, und was sich spiegelte, gab er mit vollen Händen; das sind die Schätze, die dem Volke zu eigen geworden sind: seine Werke.
Man hat Reuter seiner Zeit Mangel an Erfindungsgabe vorgeworfen. Klaus Groth, der die plattdeutsche Sprache für sich gepachtet zu haben glaubte, und Weltschmerz und Sentimentalität für die Denkungsweise des Volkes ausgab, nannte die "Läuschen und Rimels" sogar "durch und durch gemein. " Warum auch nicht, die Zunft mußte doch auch ihr Wort reden.
Was die Reuter’sche Erfindungsgabe anbelangt, so ist wahr, daß die Handlung seiner Romane einfach und natürlich ist, wie die Menschen, die er schildert, und sehr übel würde es aussehen, wenn er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte, um das zu erzielen, was nach Handwerksgebrauch große Erfindung genannt wird. Dagegen dient ihm der einfache Rahmen dazu, Bilder aus dem Seelenleben zu umschließen, welche nur der zeichnen kann, dem selbst eine Seele gegeben, dem ein weiches, feinfühlendes Herz in die Brust gelegt wurde. Sollte nicht auch deswegen der Mangel an Erfindungsgabe hervorgehoben worden sein, weil die Natürlichkeit seiner Schilderungen, die Selbstverständlichkeit der Situationen und die wohlthuende Durchführung der Charaktere so wahr aus dem Leben abgelauscht erscheinen, daß die in der That vorhandene Erfindung gänzlich übersehen wird? Und wem die Vorkommnisse in der "Franzosentid" und in "mine Stromtid" nicht bedeutungsvoll genug sind, dem ist nur dadurch zu helfen, daß er auf die unverdauliche Kost der Sensationsromane gesetzt werde; an denen ist deutlich zu sehen, welche Mühe die betreffenden Autoren sich gegeben haben, Verschrobenheiten zu erfinden.
Die "Stromtid" schildert das Zugrundegehen eines leichtsinnigen Cavaliers, dessen Fall andere Menschen mit sich reißt, bis zur rechten Zeit die Rettung eintritt. Wer hat beim Lesen dieses Werkes nicht die Qualen der jungen Frau des Cavaliers mitempfunden; wer fühlte nicht mit dem gekränkten Havermann; wer athmete nicht aus tiefstem Herzen auf, als Bräsig dem verzweifelnden Axel den Revolver nimmt und ihn mit den Worten: "Das is jo en olle Slätelbüß" in den See wirft? Und hat nicht der Dichter das Größte erreicht, wenn er die einzelnen Charaktere ihrer Anlage nach durchführt, die festen sich bewähren läßt, die schwankenden zur glaubwürdigen Festigkeit bringt, und die Situationen, in welchen die Charaktere der Probe unterworfen werden, ungezwungen herbeizuführen weiß. Das ist in der "Stromtid" der Fall, und in erhöhterem Maße noch in der "Franzosentid", welche in ihrer künstlerischen Anlage und Durchführung nach allen Seiten hin ein Meisterwerk genannt werden muß, denn hier fehlt selbst der historische Hintergrund nicht, oder richtiger gesagt, der historische Boden, auf dem die handelnden Menschen mit ihren gesunden Füßen stehen und gehen, und zwar gerade so, wie der Boden das verlangt.
Wer aber von allen Dichtern der Neuzeit hat einen Bräsig geschaffen, den menschgewordenen Humor? Keiner, auch annähernd nicht. - Und wer wagte es, in der Zeit des Raffinements und der Blasirheit ein Gedicht zu schreiben, das wie "Hanne Nüte" kindlich vertrauensvolles Entgegenkommen heischt? Fritz Reuter mit dem frischen, vollen Herzen.
Er hat sich nicht getäuscht. Was er aus innerem Drang singen mußte, fand gar bald ein Echo in der Menschenbrust; es klang wie Vogelsang im Mai, und siehe da, über all’ das Treiben des Tages waren Maienlust und Maienfreude nicht vergangen, sie waren nur ein wenig bei Seite gesetzt. Als aber Reuter sang in der Sprache des Volkes, Plattdeutsch, in der Sprache unserer Vorfahren, da ward es wieder lebendig in so manchem Herzen, da begannen längst versiechte Quellen zu rieseln, ein warmer Hauch erweckte längst Vergessenes und Frühling ward es wieder, Frühling mit Maienduft und holdem Kindersang.
Vom Volke sang Reuter und dem Volke hat er’s gesungen; der Dank, der ihm ward ist die Liebe, die ihm frei und freudig zuwallte. Er hat nicht vergebens gesungen.Nun ist er geschieden aus dem Leben, nicht aber aus dem Herzen des Volkes - das ist seine unvergängliche Heimath geworden."